Gestern Abend waren brando und ich zusammen mit Cornflake, Nachtschatten und Sadangel in Aachen, um uns zusammen die Oper anzuschauen.
Bevor es losging gab die Leiterin der Dramaturgie, Ulla Theißen, eine Einführung. Sie referierte über Annie Proulx (deren Name sie beharrlich falsch aussprach) und Charles Wuorinen, dann folgte die Entstehungsgeschichte der Oper. Vor allem betonte sie sehr deutlich, dass die Oper auf der Erzählung basiert. All das war nicht uninteressant, aber eine freie Rede hätte mir besser gefallen als das monotone Ablesen vom Manuskript.
Und dann ging es auch schon los, der Zuschauerraum war schätzungsweise zu Zweidrittel besetzt. Das jüngere Publikum war deutlich in der Überzahl (hinter uns waren sogar zwei Kinder). Kein Cowboyhut.
Wir sahen eine wirklich gelungene Aufführung, die uns allen sehr sehr gut gefallen hat. Gerade die Musik mochte ich beim zweiten Mal lieber als vorher. Vielleicht lag es daran, dass wir unmittelbar hinter dem Orchestergraben in der ersten Reihe saßen und den Musikern bei ihrer Arbeit zusehen konnten. Allerdings lenkte das auch manchmal ab.
Etwas unglücklich war nach meinem Empfinden die Platzierung der Übertitel, die rechts und links neben der Bühne positioniert waren. Um sie zu lesen musste man immer den Kopf drehen was die Aufmerksamkeit für das Geschehen auf der Bühne zwangsläufig leicht beeinträchtigte.
Den Ablauf der Inszenierung gibt dieser Link wieder, den ich an dieser Stelle wiederholen möchte: Berg voller Hindernisse
Das "Gogo-Girl" sorgte für einige Schmunzler, einmal mussten wir auch laut lachen (an welcher Stelle, will ich nicht verraten) Die Bühne selbst empfand ich als überraschend klein was aber den Vorteil hat, dass man alles gut überblicken kann. Die Kulissen waren minimal, aber sehr gut passend, besonders gefiel uns hier der Einsatz des "Brokeback"-Modells. Es gab anders als in Madrid keine Video-Einblendungen, alles war Handarbeit wobei auch die Protagonisten beim Verschieben mithalfen. Beeindruckt hat uns die Nachahmung des wolkenverhangenen Nachthimmels.
Am besten hat mir Christian Tschebeliew als Ennis gefallen, er war hinreißend gut. Dafür hat Mark Omvlee als Jack eine wirklich tolle Szene: als er langsam um das Zelt herumgeht und den schlafenden Ennis beobachtet. Da hat es in meinem Magen richtig gekribbelt. Überhaupt sparen die beiden nicht an (manchmal sogar nicht ganz jugendfreiem) körperlichem Einsatz. In der Szene beim Wiedersehen nach vier Jahren beispielsweise stehen sie in einer Sekunde noch mit Alma zusammen, in der nächsten liegen sie nackt (!!) bis auf die Socken im Motelzimmer-Bett. Wir fragten uns, ob sie die vergessen hatten oder ob das beabsichtigt war. Das kann ich beim nächsten Mal überprüfen.
Der Schluss-Applaus war laut und anhaltend, durchsetzt mit Bravo-Rufen für die Hauptdarsteller, der mehr als verdient war. Eine ganz große Leistung.
__________________ "When I get sad, I stop being sad and be awesome instead. True story."
(Barney Stinson)
Annie Proulx hat mit ihrem Libretto viele, viele Fragen der Brokies beantwortet.
Sie wählt auch eine deutlichere Sprache, Dinge werden konkretisiert und wirklich ausgesprochen, manches anders gewichtet als in Film und Buch. Ein Entwicklungsprozess, den die Autorin den Figuren zubilligt?
Das schon erwähnte Sitzen in Reihe 1 hat mich sehr fasziniert. Man konnte den Musikern bei der Arbeit förmlich zusehen. So was habe ich bisher noch nie erlebt.
Auch Aguirres Name wurde etwas anders ausgesprochen. Das ließ mich meditieren, in diesem Gleichklang to acquire/kaufen, erwerben etwas Doppelbödiges steckt.
Die Liebesszenen waren durchaus offenherzig. Wir waren uns hinterher nicht ganz einig, wie das bei den kleinen Jungs ankam.
Die von Uschi erwähnten Socken sind möglicherweise "gewollt". Im Programmheft (1,00 Euro) sind sie auch zu sehen.
Mal sehen, welche Assoziationen ihr bei der Musik habt. Ich habe mehrfach eine Tonfolge aus Raumschiff Enterprise gehört, Nachtschatten fühlte sich an eine Passage aus der Götterdämmerung erinnert.
Regieeinfälle:
- Ich bin gespannt, wie die nächsten Besucher das Cowgirl interpretieren. Vor allem die Verkleidung als Tänzerin aus dem Crazy Horse (das war zumindest meine Assoziation ob des Kopfputzes) hat nachher für Diskussionen gesorgt.
- den Nebel, der beim Herausklappen des Berges auf die Bühne strömt, empfand ich als ganz hervorragend in die Inszenierung eingebunden.
- Bauchweh hatte ich bei der Anfangsszene. ich dachte an die Schläge, die der junge Jack bekommen hat.
- die Kinderzimmerlösung war genial!
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Illegale Rollatorenrennen fahren!
bj auf die Frage, wie sein Vater den Ruhestand gestalten wird
am Ende schwächelte ich doch ein wenig (es ging immerhin schon auf 22:30 Uhr zu) sodass sich mir die Genialität dieses Regie-Einfalls erst in einem wacheren Zustand erschloss. Wirklich gut gemacht.
Was mir gar nicht gefiel war der Aufmarsch des Chores, der Ennis' Vergangenheit repräsentieren sollte. Hier zog Frau Theißen einen Vergleich mit der Funktion des Chores in der griechischen Tragödie. Ich empfand ihn trotzdem als fehl am Platz
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(Barney Stinson)
Original von Uschi
Was mir gar nicht gefiel war der Aufmarsch des Chores, der Ennis' Vergangenheit repräsentieren sollte. Hier zog Frau Theißen einen Vergleich mit der Funktion des Chores in der griechischen Tragödie. Ich empfand ihn trotzdem als fehl am Platz
Charles Wuorinen schrieb 2 Szenen als "Zugeständnis" an de traditionelle Oper:
1) Der "Geist" L.D. Newsome (man vergleiche etwa mit dem Commendatore in Mozarts "Don Giovanni")
2) Der Chor
Charles Wuorinen selbst beschreibt die Aufgabe des Chores als "Manifestation von Ennis' Gedanken; eine externe Form des Konflikts, den Ennis nie fähig war zu lösen"
War es direkt vor dem Orchestergraben nicht sehr laut???
Eine Frage zu diesem Foto:
Zitat:
Original von Uschi
Ist das ein Plakat? Wo hing das? Und.... bist du das, die man da drauf fotografieren sieht, Uschi?
Ich habe gerade noch ein paar Ausschnitte aus der Oper gefunden (ich habe da kein Problem mit Spoilern. ), und Ludger Engels empfiehlt den Aachenern, sich diese Oper nicht entgehen zu lassen, wo sogar Leute aus New York deswegen eingeflogen kommen.
Bei allen Klischees und trotz des finalen Ewige-Treue-Pathos geht das Libretto und auch die Oper immer wieder zu Herzen. Warum? – Weil sie zeigt, dass Liebe eine Naturgewalt ist, die Grenzen sprengen will und Konvention, wenn sie denn wachsen kann. Überall auf der Welt. Ennis und Jack jedenfalls, so sehr sie auch wollen, wagen ihre Liebe nicht so stark, dass sie den Pferch gesellschaftlicher Normen verlassen könnten. Traurig so was.
Und die Musik wird auch durchaus positiv empfunden:
Zitat:
Man kann diese Oper ganz gut anhören. Das atonale Material ist übersichtlich, nicht sonderlich ungewohnt und seine Funktion klar. Meist geht es laut zu im Graben, denn großes Drama ist fast immer und dann ausgiebig in Blech. Charmanter klingen da schon die vielen Farben der Stab-spieler, leise Töne sind selten, aber desto eindringlicher: Wenn Ennis’ Frau Alma (Antonia Bourvé) ihrem Mann nachweint, brodelt aus der Stille Verzweiflung.
Täusche ich mich, oder gab es nach den Aufführungen in Madrid mehr Kritik an Wuorinens Musik? Daran hat sich doch nichts geändert und trotzdem kommt es mir so vor, dass sie in der Aachener Fassung wohlwollender aufgenommen wird. Oder ist da wirklich etwas anders?
Uschi, du schreibst ja auch:
Zitat:
Gerade die Musik mochte ich beim zweiten Mal lieber als vorher.
Warum? Hattest du dich schon mehr daran gewöhnt? Oder woran lag das?
Dieser Beitrag wurde 2 mal editiert, zum letzten Mal von AngLee: 14.12.2014 17:29.
War es direkt vor dem Orchestergraben nicht sehr laut???
fand ich eigentlich nicht
Wir haben wirklich so nah an den Musikern gesessen, dass SadAngel mühelos die Schweißtropfen vom Kopf des Dirigenten hätte abtupfen können
Zitat:
Eine Frage zu diesem Foto:
Zitat:
Original von Uschi
Ist das ein Plakat? Wo hing das? Und.... bist du das, die man da drauf fotografieren sieht, Uschi?
Das ist das Plakat, das draußen am Theater-Eingang hängt. Mist, ich hatte gehofft, dass ich mich nicht spiegeln würde. Aber auf dem Foto das ich aus einem anderen Winkel gemacht habe sieht man das Plakat nicht so gut.
Drinnen gab es übrigens noch mehr Material:
das aktuelle Theaterheft, das Programmheft, ein Handzettel und die Ankündigung einer Lesung.
Zitat:
und Ludger Engels empfiehlt den Aachenern, sich diese Oper nicht entgehen zu lassen, wo sogar Leute aus New York deswegen eingeflogen kommen.
Corny hat erzählt, dass auch Leute aus dem Ennis/Jack-Forum kommen wollen
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da war ich im falschen Thread, hier also nochmal an der richtigen Stelle:
Zitat:
Original von Uschi
noch etwas zum "geschwätzigen Orchester": Das ist weder brando noch mir aufgefallen
Zitat:
Original von AngLee
Zitat:
Original von Uschi
noch etwas zum "geschwätzigen Orchester": Das ist weder brando noch mir aufgefallen
Da zitiere ich mal einen Experten: zur Szene in der Madrider Aufführung: "I can see his fire" sagt gerhardr: Kaum kommt Jack auf Aguirre zu sprechen [bei 00:24], wird das Orchester "geschwätzig".
Ich finde, das kann man durchaus nachvollziehen.
Aber Kazem Abdullah hatte sein Orchester in Aachen vielleicht mehr im Griff, was seine vermehrte Schweißentwicklung auf der Stirn zur Folge gehabt haben könnte.
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ist euch auch aufgefallen, dass Ennis' Kleidung gar nicht der eines Landarbeiters entspricht? So wie er aussieht könnte er auch in einem Büro arbeiten. Das hat mich ein bißchen gestört.
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Er trägt doch so einen grauen Overall, oder? Ich finde, das passt schon zu einem Landarbeiter.
Ich fand es zwar auch etwas irritierend, dass er keine Jeans trägt, wie es sich für einen Cowboy ziemt, aber nun ja, warum nicht.
Ich kann natürlich noch nicht beurteilen, wie ich es empfinde, wenn ich das ganze Stück sehe.
*Diskussionspunkt "Ennis´Kleidung" schon mal notiere.
ich kopiere der Vollständigkeit halber die Eindrücke von lundi und Eva zur Oper hierher:
Zitat:
Original von lundi96
Die Oper gestern Abend hat mir super gefallen. Wie Herr Gerhard schon ganz richtig sagte, ist auf der Bühne so viel los, dass die Musik nicht weiter gestört hat. So habe ich das auch empfunden, ich war so in der Geschichte drin, dass mir die Musik gar nicht aufgefallen ist. In einigen besonders dramatischen Szenen fand ich sogar, dass sie die Dramatik supergut unterstützte, wenn sie einem dann durch und durch ging, wenn es besonders tragisch wurde. Nur 2 x fand ich sie unangenehm, aber auch nur ganz kurz, also nur wenige Töne lang sprang sie mir negativ ins Ohr und bei einer Gesamtlänge von 2,5 Stunden ist das völlig in Ordnung. Ich kann aber natürlich nicht sagen, ob mir die Oper mit einer „schönen“ Musik nicht noch viel besser gefallen hätte. Aber möglicherweise wäre das auch unpassend gewesen und zu leicht ins Kitschige abgerutscht, während diese atonale Musik ja vielleicht tatsächlich einfach nur Gefühle vermittelt oder verstärkt hat. Ich habe sie gar nicht wahrgenommen, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie unbewusst vielleicht doch in irgendeiner Form auf mich gewirkt hat. Das Bühnenbild fand ich sehr genial mit der Drehbühne, die mit wenigen Handgriffen verändert wurde (teilweise von den Schauspielern selbst) oder auch auf der Rückseite unbemerkt umgebaut wurde und bei der nächsten Drehung dann ganz anders aussah. Die beiden Hauptdarsteller gefielen mit gut, nur Ennis Klamotten nicht. Dieser Rodeo-Boy allerdings auch nicht wirklich und noch viel schlimmer fand ich diese Gogo-Vogelscheuche, die den Eindruck gemacht hat, als wäre sie auf die falsche Bühne geraten. Übrigens hatte diesmal nur Ennis Socken an, Jack war ganz nackt. Da anfangs aber angekündigt wurde, dass der Ennis-Sänger erkältet sei und deshalb vielleicht nicht so ganz perfekt singen könnte (wovon wir nichts gemerkt haben), haben wir die Socken seiner Erkältung zugeschrieben. Kalte Füße bei einer Erkältung sind ja ganz schlecht. Es hatte sich am Morgen noch eine weitere Sängerin krank gemeldet, die Mutter von Alma. Da das Stück ja noch ganz jung ist, gibt es praktisch keine Sänger, die es ebenfalls schon beherrschen und als Ersatz einspringen könnten. Die einzige andere Sängerin, die in Frage gekommen wäre, lebte in Madrid. Da Almas Mutter nur eine einzige kleine Szene beim Kauf von Almas Brautkleid hatte, haben sie die Szene dann einfach ersatzlos gestrichen und sie nur vorher geschildert, weil sie doch eine gewisse Bedeutung hatte, weil sich schon da zeigte, dass Alma und Ennis unterschiedliche Erwartungen ans Leben hatten und diese Ehe allein deshalb schon nicht gut gehen konnte. Da viel des Gesangs mehr eine Art Sprechgesang war und einige Stellen tatsächlich gesprochen statt gesungen wurden, hätte ich es besser gefunden, wenn man die Szene dann eben gesprochen statt gesungen und dabei meinetwegen auch noch vom Blatt abgelesen hätte anstatt sie komplett ausfallen zu lassen, aber mich hat ja nun keiner gefragt.
Zitat:
Original von Eva
Die Oper fand ich suuuuuuper!!!
Sie ist so eine tolle Ergänzung zu unserem Film und der Kurzgeschichte......eine richtige Bereicherung für mein Empfinden. Das Schauspiel von Tschelebiev und Omvlee war großartig und die Musik weit weniger schrecklich, als ich befürchtete. Sogar ganz im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass das Orchester die atonale Musik so weich und harmonisch wie möglich spielte. Ein paar Töne gab es allerdings, die sich richtig ins Trommelfell bohrten und meine Nackenhaare sträubten.
Fast umgehauen hat mich ja die erste Zeltnacht!
Ich muss ehrlich sagen, dass ich die noch nicht richtig "verarbeitet" habe. Ang meinte ja, dass sie in dieser Art irgendwie "falsch" sei. Auch ich denke, dass diese Inszenierung eigentlich nicht zum Wesen und der persönlichen Einstellung von Ennis passt, aber.......Ennis wirkt in der Opernversion m.E. sowieso ein wenig anders als im Film, weil er viel mehr seine Gefühle und inneren Gedanken zum Ausdruck bringt. Das wirkt auf mich etwas "weicher" (mir fällt gerade kein besseres Wort ein) als der "harte einsilbige Kerl" aus dem Film. Vielleicht ist solch eine "Version" des Ennis´ eher bereit, seinem Jack auch die "andere (passive) Seite" der Partnerschaft zu bieten. Interessant war, dass Ennis diese Konstellation ja sogar später nochmal wiederholen wollte.
Was denkt ihr dazu?
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(Barney Stinson)
Zur Erklärung an die Hiergebliebenen: in der ersten Zeltnacht in Aachen war Ennis der Aktive und der erste sexuelle Kontakt war ein Blowjob, den Ennis Jack gegeben hat. In Madrid war das wohl anders, da wurde das Ganze nur als Schatten gezeigt, aber wohl genau so wie im Film. Die zweite Nacht gab es - zumindest in Aachen - überhaupt nicht.
Zitat:
Original von Eva
Ang meinte ja, dass sie in dieser Art irgendwie "falsch" sei. Auch ich denke, dass diese Inszenierung eigentlich nicht zum Wesen und der persönlichen Einstellung von Ennis passt...
Das stimmt. Veränderungen sind ja sowieso immer heikel, wenn man eine andere Version schon lange kennt und liebt und oft gesehen hat, aber in dem Fall hat mich auch sehr gestört, dass es nicht zu Ennis Charakter passt. Aber Du hast auch damit Recht, dass Ennis in der Oper zumindest Jack und sich selbst gegenüber offener und gefühlvoller ist, von daher ist es in der Oper zumindest in sich stimmig. Letzteres war mir aber gar nicht bewusst geworden, erst als ich es jetzt von Dir gelesen habe. Dass es nicht zu Ennis passt, war mir aber gleich aufgestossen. Für Leute, die den Film nicht kennen und die Oper unvoreingenommen sehen, war es aber vermutlich völlig in Ordnung.
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it´s the choice we make.